- 'Ne Siebträger-Kaffeemaschine in der Designerküche ist völlig normal? Vielleicht auf Social Media, aber nicht in unserer Realität. Ein Plädoyer für "normalen Besitz".
Das Wichtigste in Kürze:
- YouTube & Co haben unsere Wahrnehmung von dem geändert, was als “normal” gilt.
- Das vermeintliche, neue Normal ist geprägt von Überfluss und Privilegien
- 5 Beispiele zeigen dir, wo wir etwas aufgrund unserer Sehgewohnheiten als normal annehmen, obwohl es das nicht ist.
Inhaltsverzeichnis
Vermeintliche "Must-Haves"
Ich habe ja so einige Schwachstellen. Die meisten drehen sich darum, dass ich Dinge tue, von denen ich genau weiß, dass sie mir nicht gut tun. Ich schaue z.B. viel zu viele YouTube Videos, meist nebenher beim Kochen, Putzen, Wäsche aufhängen.
Meine neuste Leidenschaft: Home Tour Videos.
Ja, die von Tan France, Emma Watson oder Dakota Johnson.
Aber auch die von anderen, offensichtlich sehr reichen Menschen. In den USA.
Ich rede mir natürlich ein, dass ich das für Design Inspo machen. Aber natürlich bin ich einfach nur schrecklich neugierig und will mich selbst kasteien, in dem ich in einem rabbit hole von Inneneinrichtung verschwinde, die ich mir niemals werde leisten können.
Und neulich war es so weit: Ich habe mich bei dem Gedanken erwischt, dass wir unbedingt eine Siebträger-Maschine für Kaffee brauchen. Dabei trinke ich kaum Kaffee. Unsere Küche ist viel zu klein dafür. Und wir haben schon einen ziemlich guten Vollautomaten. Der einwandfrei funktioniert.
Hier ist mein Problem damit:
Ich habe gemerkt, dass ich durch das viele naseweise Rein-gucken in das Leben anderer eine andere Vorstellung davon bekommen habe, was eigentlich normal ist.
Normal ist plötzlich, dass jeder eine Siebträger-Maschine hat. Weil ich es in all den YouTube-Videos sehe.
Dabei stimmt das nicht.
Ich kenne persönlich nur EINE Person, die ein solches Ungestüm zu Hause hat.
Ansonsten heißt es Filterkaffee, French Press und Vollautomat. Das ist das “normal”.
Weil sich die meisten Leute keine Kaffeemaschine im Wert von mehreren tausend Euros leisten können. Oder den Platz dafür haben.
Ich habe nach dieser Erkenntnis noch einmal genauer hingeschaut und mir sind noch folgende sogenannte Must-Haves aufgefallen, die eigentlich keine sind:
Realität vs. Social Media: Diese 5 Social Media-Must-Haves hat in Wirklichkeit nicht jeder!
Jeden Tag perfekt manikürte Fingernägel
Weißt du, wie stolz ich bin, dass ich diesen Text mit sommerlich-weiß lackierten Fingernägeln in mein rosé-farbenes Notebook (#instaklischee)(wenn auch nicht in einem Coffeeshop) tippe, und nur an meinem rechten Ringfinger und kleinen Finger ein Stück fehlt? Und dass die Dapper, die ich in den noch nicht trockenen Lack gedrückt habe, zumindest aus einem Meter Entfernung nicht sichtbar sind.
DAS ist die Realität.
Denn: “normale” Fingernägel sehen jeden Tag Spülwasser, topfen nach Feierabend noch schnell die Tomatenpflanzen um, hängen endlos Wäsche auf, kratzen mal schnell einen ominösen Fleck vom Boden.
Und zack, wieder ein Stück vom Lack ab.
Perfekt geordnete Kühlschränke mit beschrifteten Aufbewahrungsbehältern
Kennst du diese “Restocking Videos” in denen jemand einen leeren Kühlschrank füllt, indem sie den Einkauf von den Plastikverpackungen in schön beschriftete Glasdosen packt? Natürlich ist die Beschriftung mit einem Laminiergerät gemacht.
Sorry, aber wer hat denn Zeit dafür?
Was für ein Aufwand, nur um eine bestimmte Ästethik zu erreichen. Denn praktischer wird es dadurch nicht. Plastik hast du trotzdem verwendet. Und durch den Transfer der Lebensmittel werden sie auch schneller schlecht.
Und wer zudem das Geld dafür?
Denn ein großer Vorrat von einheitlichen Glasdosen kostet richtig Geld. Es sieht vielleicht minimalistischer aus. Aber deinen Geldbeutel macht es auch kleiner.
Was normal ist?
Ein Kühlschrank, indem die Notfall-Packung Pizzateig ganz hinten vergammelt, zwischen bunten Käsepackungen, lommeligen Gurken und abgelaufenen Grillsaucen.
Jedes Kind hat ein eigenes Zimmer
Auf diesen Punkt hat mich eine Freundin gebracht, die überlegt, ob sie in eine größere Wohnung ziehen soll.
Und mir ist aufgefallen: In meiner Kindheit und Jugend hatten nur wenige Kinder mit Geschwistern eigene Zimmer. Es haben auch nicht alle in einem eigenen Haus gewohnt.
Doch wenn ich jetzt Social Media öffne, entsteht der Eindruck, dass jedes Kind für sich alleine ein Zimmer so groß wie meine erste eigene Wohnung zur Verfügung hat.
Der Überkonsum an Wohnraum ist allgegenwärtig und trieft vor Privilegien. Denn die, die sich mit 3 Geschwistern ein Zimmer teilen mussten, werden dies bestimmt nicht auf Social Media teilen, um nicht den eigenen sozialen Status zu offenbaren. Beziehungsweise haben sie aufgrund ihres sozialen Status mit großer Wahrscheinlichkeit gar nicht die Reichweite.
Meine Freundin hat sich übrigens dazu entschieden, in der kleineren Wohnung zu bleiben, weil sie sich dort einfach wohl fühlen.
Mehr zum Thema Überkonsum und warum er so gefährlich ist, liest du hier:
Eine Handtaschen- und Schuhsammlung haben
Habe ich mich schon dabei erwischt, dass ich von einem begehbaren Kleiderschrank träume? Mit beleuchteten Regalbrettern und so einem kleinen Puff in der Raummitte? Ja, natürlich. Ich bin auch bloß ein Mensch.
Aber ist es normal, so viele Klamotten, Handtaschen und Schuhe zu haben, dass du dafür einen eigenen Raum brauchst?
Nein.
Lass dir nicht vormachen, dass du zu wenig hast, nur weil Emma Stone in ihrer Home Tour entlang meterlanger Glastüren schwebt, in denen Oscar-Roben ausgestellt sind.
Ständig in den Urlaub fahren
Nein, nicht jeder macht jedes Jahr mehrere Continental-Flüge in Luxus-Ressorts around the world.
Die meisten von uns sind froh, wenn sie sich ein Mal im Jahr die Fahrt an die Ostsee oder die Bretagne leisten können. Die meisten von uns sparen jahrelang auf die eine große Reise nach New York. Und ziemlich viele von uns können sich gar keinen Urlaub leisten.
So sieht die Realität aus. Lass dich nicht von Social Media verunsichern, dass du deine Bucket List mit 28 Jahren noch nicht “abgearbeitet” hast.
Ach ja, übrigens, die meisten von uns sind auch nicht so ignorant und buchen sich nen Flug auf Ibiza, obwohl sie nur 80 Euro auf dem Konto haben. Das ist ein TikTok-Trend, der zum Haare raufen ist!
Mehr dazu liest du hier:
Über Verzicht. Oder warum Finanzen organisieren nichts damit zu tun hat.
Fazit: Was ist schon normal?
Social Media impft uns Dinge über Geld, Besitztum und Konsum ein, die wir für normal halten sollen. Doch in Wahrheit sieht unsere Lebensrealität ganz anders aus.
Und das macht uns ein schlechtes Gefühl im Bauch.
Wir denken, wir haben versagt, weil wir gewisse Marker von Wohlstand nicht erreichen können und es dann nicht einmal hinbekommen, gepflegte Fingernägel ohne Splitterlack zu haben.
Das nächste Mal, wenn du Kaffee aus deiner French Press in deiner unaufgeräumten Küche trinkst, als Snack ne Scheibe Käse direkt aus der grellroten Packung mampfst und die Tage bist zum nächsten Urlaub zählst, denk daran:
Ich mache gerade genau das gleiche.
Unsere Realität ist normal.