Wir brauchen noch nen extra Schrank im Flur, damit wir da noch was lagern können. Ich stand zwischen Umzugskartons in unserer neuen Wohnung und hatte alle vorhandenen Schränke eingeräumt. Aber nicht alle Kisten ausgeräumt. So. viel. Zeug.
Dabei bin ich doch jemand, der sehr darauf achtet, was sie kauft und aus welchem Grund. Und nein, das wird nun auch kein Blogartikel darüber, wie ich von der Shopping Queen zur Minimalistin wurde. Das erste war ich nie und das zweite werde ich nie sein.
Aber ich fragte mich schon: Wie kann es sein, dass wir vor unserem Umzug ausgemistet haben und trotzdem so unendlich viele Dinge besitzen? Wie kann es sein, dass ich mein Geld damit verdiene, über achtsamen Konsum zu sprechen und gerade zwischen Umzugskartonstürmen meinen Mann suche, um ihn zu Ikea zu schicken?
Und überhaupt: habe ich eigentlich normal viele Dinge? Oder zu viel? Ist das schon Überkonsum?
Inhaltsverzeichnis
Was ist Überkonsum?
Hast du auch gleich an überquellende Kleiderschränke, Kosmetik-Schubladen und Schuhregale gedacht? Ich auch. Liegt ja auch am nächsten.
Und aus so netten (und gaaaar nicht frauenverachtenden -aber dazu später mehr-) Serien mit Aufräum- und Ordnungscoaches wie Marie Kondo wissen wir: Zu viel Kram in den Schränken ist nicht gut. Nicht für uns und nicht fürs Klima.
So weit, so obvious.
Aber in unserer Konsumgesellschaft sind wir doch schon weit über den üblichen Überkonsum von Kleidung, Küchengeräte und Elektronikartikel hinaus. Mir fallen nämlich noch weitere Bereiche ein, in denen wir oft unterbewusst überkonsumieren.
Essen, klar.
Aber wie sieht’s eigentlich mit Filmen und Serien aus? Ist das bingen der neuen Bridgerton-Staffel (das dauert echt eeeeewig, bis die rauskommt) an einem Wochenende nicht auch ein Zu-Viel? Wäre es nicht besser für uns, unsere Beziehungen, unsere Augen und unsere Gehirne, jeden Tag eine Folge anzuschauen anstatt an einem Tag alle? (I mean…wir wissen, dass sich Penelope und Colin finden werden, oder? ODER?! Habe die Bücher nicht gelesen)
Und warum empfinden mein Mann und ich unsere neue 82qm Wohnung eigentlich als zu klein für uns beide? Warum haben wir das Gefühl, wir brauchen mehr Wohnraum, obwohl wir schon von 60qm aufgestockt haben? Aber klar, wenn mir überall suggeriert wird, ich brauche mindestens ein zweistöckiges Haus, um genug Platz zu haben, wie soll ich dann mit meiner 3-Zimmer-Wohnung zufrieden sein? Schließlich leben wir damit auf unterdurchschnittlich wenig Raum, wie diese Statistik des Bundesumweltamtes zeigt. Demnach liegt nämlich in Deutschland der durchschnittliche Wohnraum pro Kopf bei ca. 47qm.
Wir wollen immer größere Wohnungen, um immer mehr Zeug unterbringen, größere Fernseher für unsere Serienabende installieren und doppeltürige Kühlschränke wie in den USA aufstellen zu können.
Weil es doch normal ist, einen begehbaren Kleiderschrank, einen 80 Zoll curved Flachbildfernseher und Terrassenmöbel im Wert deines SUVs zu besitzen.
Oder?
“Ein Großteil der deutschen Frauen zwischen 18 und 40 Jahren hat eigenen Angaben zufolge mehr im Kleiderschrank als benötigt: 60% besitzen zu viel Kleidung, gefolgt von 50%, die angeben zu viele Paar Schuhe zu besitzen. Und auch bei Taschen und Accessoires haben 45% der deutschen Frauen zwischen 18 und 40 Jahren deutlich mehr als benötigt.”
Aus: Usage & Attitude „Selbstreflexion Modekonsum“ Ergebnisbericht, 01. März 2017,
Überkonsum: Warum wir immer mehr wollen
Was ist schon normal?
Wir sind so daran gewöhnt, eine große Menge an Besitztümern zu sehen, dass wir nicht mehr wissen, was eigentlich normal ist. Oder kannst du auf Anhieb sagen, wie viele T-Shirts oder Lippenstifte im Schrank normal sind? Oder wie viele Zimmer normal sind?
Also ich nicht. Ich weiß nur, dass es möglichst viel sein muss.
Denn das sind wir gewohnt zu sehen, richtig? Wir sehen Kleiderschränke, in denen allein die Sommerkleider meterlang hängen – natürlich farblich sortiert. Wir sehen Kleinfamilien, die in riesigen mansions wohnen, mit Wintergarten und Pool. Wir sehen Badezimmerschränke, die eine ganze Kosmetikabteilung im Kaufhaus beherbergen.
In Serien, Filmen, Medien und auf Social Media wird uns ein gewisser Standard als normal vorgesetzt, der gar nicht widerspiegelt, wie viele Besitztümer eigentlich gut und normal sind. Geschweige denn, wie es aussieht, wenn jemand verantwortungsvolle Kaufentscheidungen trifft und bewusst konsumiert.
Dieser angenommene Standard hat unser Wahrnehmung verzerrt und Überfluss normalisiert.
Keeping up with the Krämers
Wir könnten nun natürlich sagen “Ja dann folge ich diesem Standard halt einfach nicht?!”.
Aber da macht uns unsere menschliche Natur nen ordentlichen Strich durch die Rechnung. Da sagt nämlich die Neandertalerin in uns gleich “Aber ich muss mein Überleben sichern und das kann ich nur, wenn ich Teil einer Gruppe bin. Und damit ich Teil einer Gruppe bin, muss ich genau so sein wie sie und genau das haben.”
Und das war’s dann mit unserer Individualität.
Schließlich wollen wir uns doch genau das leisten können, was die Influencerin da gerade auspackt. Dass wir dafür aber echtes Geld hinlegen müssen und die nette junge Frau auf deinem Handybildschirm die ganze Box geschenkt bekommen hat, blenden wir dabei aus. Egal, wie transparent da steht, dass es sich um Werbung und ein Geschenk handelt (und bitte, das soll kein Influencer*innen-shaming sein. Das ist ein harter Job und eine absolut legitime Art, Geld zu verdienen!)
Denn Überkonsum entsteht aus der Angst heraus, nicht genug zu haben und nicht mithalten zu können. Vlogs, Hauls & Co befeuern dieses Gefühl noch mehr.
Wie du einen großen Denkfehler vermeidest, liest du hier:
Wir sind einfach verzogene Bälger
Und das meine ich natürlich ganz liebevoll. Denn wie das bei Serena, Blair, Nate und Chuck halt auch ist: Sie können nix dafür, dass sie so verwöhnte Gören sind. Genau wie sie sind wir dazu erzogen worden, dass wir alles haben können. Jederzeit. Sofort. Oder zumindest innerhalb von 24 Stunden.
Diese konstante Verfügbarkeit verführt zu Überfluss.
Sobald ich mich entschieden habe, dass ich etwas “brauche” (was auch immer das heißen mag”), liegt es schon vor meiner Haustüre. Zeit zum Überlegen und Abwägen? Gibt es nicht. Die Zeit zwischen Kaufintention und “dein Päckchen kommt heute” ist so kurz, dass wir gar nicht mehr zum Zögern kommen. Keine Ladenöffnungszeiten, kein Feiertag und keine Lagerkapazitäten halten uns mehr davon ab, dass jetzt sofort zu haben, was wir haben wollen.
Wer kann da schon widerstehen?
“Dann kauf ich’s mir halt neu”
Verfügbarkeit ist ja das eine. Dass das Teil, das da in diesen Greenwashing-Kartontüten kommt, auch noch richtig billig ist, ist doch auch ganz nett, oder. Und ich meine nicht günstig. Sondern billig in jedem Wortsinn.
Wir sind inzwischen daran gewöhnt, alles möglichst billig (wenn nicht gar umsonst) zu bekommen. Dass die Qualität dann nicht mithalten kann..naja, egal. Hat ja nicht so viel gekostet, was willste erwarten?
Das ist ein absoluter Überkonsum-Teufelskreis: ich kaufe etwas billig, es geht kaputt, dann kaufe ich es wieder billig – weil…hält ja nicht so lang, es geht wieder kaputt usw. Am Ende habe ich zwar das Gefühl, gespart zu haben. Aber eigentlich habe ich viel mehr Geld ausgegeben (und Ressourcen verbraucht), wie wenn ich gleich auf Qualität gesetzt hätte.
Und ich finde, hier spielt noch ein anderer Faktor mit hinein: Wir sind so schlecht darin, uns zu entscheiden, dass wir mit dem Billig-Kauf lieber ein kleineres Risiko eingehen wollen. Könnte ja sein, wir wollen uns nochmal umentscheiden. Oder sind nicht 100% zufrieden. Da wir aber die Anspruchshaltung vermittelt bekommen, dass alles immer 100% passen muss, sonst ist es ein absolute failure, kommt das gar nicht in die Tüte.
Sorry, aber das ist nicht das wahre Leben. Und rührt daher, dass wir nie gelernt haben, gute Geldentscheidungen zu treffen. Deshalb flüchten wir uns in Überkonsum.
Gönn’ dir!
Jetzt mal ganz ehrlich: Wie oft denkst du dir “Ich gönn’ mir ja sonst nix” oder “das gönn’ ich mir jetzt einfach”? Ich wette, mindestens ein Mal pro Supermarkt-Besuch.
Well, I got news for you: Wenn du dir das bei jedem Einkauf einmal denkst, dann ist das keine Gönnung. Sondern eine Gewohnheit, verschleiert als etwas gaaaaanz Besonderes. Weil wir ja schließlich die kleine Prinzessin sein wollen, die wir im tiefsten Innern sind. Und weil’s sonst niemand macht, geben wir uns mit jeder kleinen Gönnung das Gefühl very special zu sein.
Das Gefühl ist ja auch einfach zu schön, oder? Nach einem harten Tag im Büro, an dem mal wieder keiner bemerkt hat, was für ein wundervolles, einzigartiges, zartes, starkes, schönes Geschöpf wir sind (wie können sie es wagen!?), machen wir es uns halt selbst und kaufen etwas, was die Seele streichelt. Haben wir uns schließlich verdient.
Der Kapitalismus hat es geschafft, dass Self Care und Entspannung eng mit Konsum verwoben sind. So sehr, dass wir denken, wir können uns nur dann etwas Gutes tun, wenn wir konsumieren. Ziemlich raffiniert eingefädelt, finde ich.
Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass du dir gerade dann etwas nicht kaufen solltest, wenn du das aus einem Gönnjamin-Gedanken heraus machst. Denn mit ziemlicher Sicherheit steckt da ein ganz anderer Wunsch dahinter, den du auch ohne Konsum erfüllen kannst.
Du willst Entspannung, little princess? Dafür kaufst du keine überteuerte Duftkerze, sondern machst ne Stunde früher Netflix aus und nimmst das Handy nicht mit ins Schlafzimmer. Du kannst mir später danken.
Meine besten Tipps für bewussten Konsum:
Immer auf der Jagd nach Neuem
Ich versuchte, mir meine Reaktion nicht anmerken zu lassen, auch wenn mir innerlich die Kinnlade auf den Boden fiel. Uns ist es einfach wichtig, immer das neuste Handy zu haben. Das war das Ende eines erstaunlich langen Berichts, warum sich das Paar schon das zweite neue Handy dieses Jahr gekauft hat. Nicht, weil die alten kaputt sind. Sondern weil es neu sein muss.
Ich gebe mir ja immer viel Mühe, niemanden zu verurteilen und die Konsumgewohnheiten anderer immer in Zusammenhang von Kapitalismus und Patriarchat zu sehen. Aber hier wusste ich wirklich kurz nicht, was ich sagen soll.
JETZT weiß ich es natürlich. Denn jetzt habe ich recherchiert, welches psychologische Phänomen dahinter steckt. Und zwar “Novelty Seeking” (Eine genaue Definition findest du hier). Mit jedem Kauf wird das Belohnungssystem aktiviert, weil Dopamin ausgeschüttet wird. Also das gleiche Glückshormon, wie bei Essen, Sex oder wenn du deine Lieblingsmusik hörst.
Klar, dass wir danach immer auf der Suche sind. Und eigentlich ein ganz normaler, menschlicher Zug.
Etwas Altes zu besitzen, das vielleicht auch noch Gebrauchsspuren hat, schon einmal repariert wurde, aber halt noch funktioniert – geht gar nicht. Vor allem, weil das doch nicht normal ist, ich damit nicht mit den Müllers mithalten kann, eine neue Version sofort und billig zur Verfügung stünde und ich damit eine Gelegenheit verpasse, mit etwas zu gönnen.
Wer wundert sich da noch, dass wir überkonsumieren?
Retail Therapy
Wenn Kapitalismus und Marketing-Branche eine Galerie hätten, dann wäre Retail Therapy ihr Prunkstück. Das chef d’oeuvre. (Siehst du jetzt auch Don Draper leise in seine Zigarette lachen?)
Ein Bewältigungsmechanismus, der salonfähig wurde. Seufze ich “shopping ist einfach meine Therapie”, dann ernte ich bestimmt verständnisvolles Gelächter und Nicken.
Eine repäsentative Greenpace-Studie fand heraus, dass über die Hälfte der befragten Frauen shoppen geht, um sich aufzumuntern: “Für 39% der Frauen verschafft shoppen zu gehen einen regelrechten „Kick“ und ein Gefühl von Erfülltheit. Beides hält jedoch überwiegend nur wenige Stunden bis maximal einen Tag an und verfliegt dann wieder.”
Auch hier wieder ein Teufelskreis. Um uns aufzumuntern, gehen wir shoppen. Das gute Gefühl ist aber nicht von langer Dauer, also scrollen wir schon durch die nächste App.
Und schon sind die Schränke übervoll.
Doch was steckt eigentlich dahinter? Shopping und Überkonsum sind nämlich nur das Symptom. Die Ursache ist, dass wir nie gelernt haben, mit unseren negativen Emotionen umzugehen oder überhaupt richtig zu fühlen. Wir sollen schließlich immer nur gut drauf sein. Positive vibes only. Also versuchen wir mit aller Kraft negative Gefühle zu verhindern. Geht ganz einfach, mit dem Dopamin-Kick, den uns der neue Ringelpulli verschafft.
Warum die ganze Idee von Retail Therapy nicht funktioniert? Dass du dir nur noch diesen einen roten Lippenstift gönnen musst, um sexy zu sein, ist eine Lüge. Kosmetikfirmen wollen nicht, dass du dich sexy fühlst. Sie wollen, dass du dich sche*ße fühlst, damit du weiter Lippenstifte kaufst und dem Versprechen hinterherrennst, dass du Gal Gadot sein könntest. Aber was macht Super Woman sexy? Nicht ihre Lippenpflege, sondern ihr Lachen. Und so ist es bei dir auch. Kostenlos.
Wie du achtsamer shoppen gehst, verrate ich dir hier:
Ist Überkonsum eigentlich weiblich?
Ist dir aufgefallen, dass es beim Thema Zu viel Konsum, Überfluss und unnötiges Shopping eigentlich immer nur um Frauen geht?
Zu viel Geld ausgeben für Make-Up? Frivol.
Für Klamotten? Leichtsinnig.
Für Self Care? Übertrieben.
Sobald es aber um “Männer-Sachen” geht, ist Überkonsum völlig in Ordnung.
Der Nachbar hat ne riesige Sammlung an Fitness-Geräten. Cool!
Sein Balkon hat zwar nur 3qm, dafür könnte er auf seinem Marken-Grill ne ganze Kuh braten, so groß ist der? Geil!
Und ja, hier zeigt sich auch meine eigene verinnerlichte Misogynie. Die Beispiele, die ich in diesem Text gewählt habe, liegen fast alle im Bereich Beauty und Self Care.
Fazit: Vom Haben und Sein oder ‘the system is rigged’
Ich habe versucht, das K-Wort so wenig wie möglich zu verwenden. Will ja nicht, dass irgendwelche FDP-Trolle hier auf meinem Blog landen. Und ich will auch keine einseitigen Schuldzuweisungen machen.
Doch es ist nunmal so: Kapitalismus ist ein abgekartetes Spiel, in dem wir als Konsument*innen nur verlieren können.
Wir können uns nicht komplett immun machen gegen all die Werbebotschaften, die minütlich auf uns einprasseln, egal wohin wir gehen.
Aber wir können mündige Verbraucher*innen werden (keine Angst, ich komme jetzt nicht mit einer Schulstunde zu Kant). Und das werden wir,
- indem wir uns selbst und unsere tatsächlichen Ziele und Werte abseits gesellschaftlicher Erwartungenreflektieren
- indem wir lernen zu fühlen, anstatt zu betäuben.
- indem wir die Spielregeln lernen. Denn es hilft ungemein, über Marketing-Tricks und Werbemaschen Bescheid zu wissen und sie zu erkennen
- indem wir uns mit unserem Geld und unserem Geld-Mindset beschäftigen. Denn des Kapitalismus und Patriarchats beste Freundin ist eine Frau, die von ihren Finanzen so überfordert ist, dass sie* ihr Geld so schnell wie möglich wieder ausgibt.
Und das lassen wir nicht zu, oder?